A Retroactive Architecture Guide for Rotterdam
&
Rotterdam Encounters

Zwei Serien à 100 Bilder/50 Bildpaare

Architect-in-Residence Goethe Institut Rotterdam

2020



Im Fall der Stadt Rotterdam ist der Anteil der Architektur an der eigenen Identität vergleichsweise hoch. Dies hat verschiedene Gründe, unter anderem das rapide Stadtwachstum ab der vorletzten Jahrhundertwende, die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neue Bauen, den beinahe einzigartigen modernen Wiederaufbau des Stadtzentrums nach der Zerstörung im zweiten Weltkrieg und in jüngerer Zeit schließlich die Weiterentwicklung großer innerstädtischer Hafenareale.
Damit einhergehend entwickelte sich eine auffällige Anzahl bedeutender Architekturschaffender und ein ausgeprägtes Bewusstsein für Planung auf allen Maßstabsebenen. Die glanzvollsten Exponenten dieser Entwicklung füllen folglich spielerisch sogenannte „Architekturführer“ und sind oft zurecht vielfach besucht und diskutiert.

Jenseits davon existiert aber eine Welt, die zumindest quantitativ die weit größeren Auswirkungen auf die gebaute Umwelt hat: All jene Werke und Autoren, die aus verschiedensten (nicht unbedingt qualitativen) Gründen nicht in den Kanon der Architekturgeschichte aufgenommen wurden.
Bernard Rudofsky hat diese in seiner berühmten gleichnamigen Publikation und MoMA-Ausstellung Mitte der 1960er-Jahre als „Architecture Without Architects“ zusammengefasst und Philip Johnsons homogener „Modern Architecture“-Ausstellung von 1932 gegenübergestellt. Diese Erzählung einer im Schatten verlaufenden Architekturgeschichte wurde damals kontrovers diskutiert, bis heute hat sich die Kluft zwischen der von der Fachwelt anerkannten „Architektur“ und dem quantitativ weit bedeutenderen „Bauen“ wohl eher noch verstärkt.
Die Dichotomie ist selbstredend unscharf, der Versuch der Abgrenzung durch erstere aber meist eindeutig. Umso interessanter und notwendiger erscheint es aber, die Wechselbeziehungen zu erkennen und das gewonnene Verständnis vielleicht zu einer produktiven gegenseitigen Befruchtung einzusetzen.

Dazu gehört auch das unvoreingenommene Entdecken und Sichtbarmachen von gebauter (wenn auch manchmal „zufällig“ entstandener) Qualität jenseits perfekter Ikonen und homogener Viertel. Womöglich sind skurrile Auswüchse zu beobachten, wunderschöne Zufälle zu finden, vielleicht auch bislang unentdeckte Meisterwerke. Es wird die Behauptung aufgestellt, dass diese „zweite Schicht“ in Einzelfällen sogar die interessantere oder zumindest die unterhaltsamere ist.

Ihre Wahrnehmung funktioniert derweil konträr zu üblichen Verhaltens- und Betrachtungsmustern. Während die offiziell anerkannten Meisterwerke in einem recht begrenzten Umkreis anhand vorher feststehender Wege aufzufinden sind, bewegt man sich nach dem Ablegen der Scheuklappen auf dem gesamten „terrain“ (Guy Debord) und hat kein vorausgehendes Wissen zum eventuell Vorgefundenen.
Die Rezeption verläuft deshalb direkt und unmittelbar, das eigene Erkennen, Einschätzen und womöglich Fantasieren treten an die Stelle von übernommenem Wissen und dem Erfüllen von Erwartungen. Die Aufmerksamkeit bleibt gleichmäßig hoch, die Begegnungen sind unvoreingenommen. Das von Debord als „Umherschweifen“ (frz. „dérive“) bezeichnete Verhalten ist das Gegenteil des gezielten (Auf-)Suchens, an die Stelle eines Führers tritt der Finder.

Eine solche Methodik ist deshalb auch weit besser dazu geeignet, sich einen Überblick und ein Verständnis der Stadt und ihrer Entstehungsgeschichte zu verschaffen, abgesehen von der bunten Sammlung interessanter Einzelobjekte.
Diese wiederum sind beinahe autonome Akteure im Erkundungsprozess. Sie sind der Motor der Erkundung, Wegmarken oder Fixpunkte eines zugehörigen Kontexts, stören die Gleichmäßigkeit, regen zu Um- und Irrwegen an, provozieren Begegnungen, irritieren oder erzählen Geschichten.

Die Geschichten handeln oft von den größeren Zusammenhängen wie vergangenen oder aktuellen Nutzungen eines Gebiets, sozio-ökonomischen Prozessen oder der Transformation von Natur in Kultur- und Stadtlandschaft.
Unweigerlich führt ein ungeplantes Erkunden an die Brüche und Übergänge verschiedener Zonen und somit an die Stellen, an denen man oft am meisten über städtische Prozesse erfahren kann.
Das Stadtgebiet verändert und vergrößert sich sozusagen mit jeder Bewegung, mit jedem Fund, individuell wie auch kollektiv.



Mit Unterstützung von Andre Dekker/Observatorium und Sander van Wettum.